Ursula Grammel: "Paul Stohrer. Architekt in der Zeit des Wirtschaftswunders"
Edition Axel Menges, Stuttgart 2012 358 Seiten, 500, sw-Abbildungen 69,00 Euro
Salonlöwe mit Phantomgepard
Paul Stohrer (1909 - 1975) war ein richtiger Society-Architekt – vielleicht sogar der einzige wahrhaftige, der je die Stuttgarter Bauszene aufmischte. Dass er einen Geparden als Haustier hielt und mit ihm Gassi ging, war eine verbreitete Legende, aber weltmännische Gewandung, der farbige Diener und auffällige Sportwagen bis hin zum Mercedes 300 SL "Flügeltürer" sorgten tatsächlich für ein entsprechendes Aufsehen dieses Gestalters mondäner Villen und extravaganter Geschäftshäuser.
Ursula Grammel, seine ehemalige Assistentin an der Universität, hat mit ihrer Doktorarbeit eine Werkmonographie vorgelegt, die ein überaus wichtiges gebautes Werk systematisch erschließt und das Schaffen eines charismatischen Hochschullehrers in einer Zeit des Baubooms der 50er und 60er Jahre dokumentiert. Insbesondere in Stuttgart werfen Stohrers Bauten unter den Aspekten der Denkmalerhaltung und Stadtbildreparatur aktuelle Fragen auf.
Mancher wird überrascht sein, was alles von Stohrer ist und das Stadtbild prägt: Er begann mit Einfamilienhäusern im besten Sinne der traditionellen Stuttgarter Schule; das zusammen mit Paul Schmohl entworfene Rathaus wird heute noch von vielen verschmäht, zeugt jedoch von einer in den Details gut proportionierten Synthese aus Tradition und Moderne. Verschwunden sind seine im Zeitgeist der 1950er Jahre ausstaffierten Filmtheater, das Kabarett "Mausefalle" und der Radio Barth. Demnächst abgerissen werden seine Tankstelle hinter dem Züblinparkhaus im Bohnenviertel und das Iduna-Hochhaus am Hauptbahnhof, letzteres wohl kein schwerwiegender Verlust. Von seinem ausgesprochenen Gespür für Volumen und Plastizität mit differenziert proportionierten Rasterfassaden und zuweilen einer Manie für Lochblenden zeugen die Geschäftshäuser Englisch und Hofbräueck in der Königstraße, die IHK an der Türlenstraße oder die Coca-Cola-Fabrik in Fellbach. Sein Wohn- und Bürohaus von 1961 in der Lenzhalde erhielt den Paul Bonatz Preis. Weitbekannt ist die heute öffentlich zugängliche Villa des Kunstsammlers Domnick in Nürtingen, aber die mächtigen Terrassenhausanlagen wie auf dem Haigst würde man heute so nicht mehr genehmigen.
Spannend ist Stohrers Schaffen auch bei der Innenarchitektur: die nierenförmigen Deckenscheiben mit indirekter Beleuchtung, Treppengeländer und Leuchtkörper sind Paradebeispiele der Nachkriegszeit, überhaupt: seine kontraststarke Lichtregie der nächtlichen Fassaden verdient eine Wiederentdeckung. Hätten die Zeitgenossen und Schüler Stohrers dessen kraftvolle, individuelle Bauweise gerade bei Gewerbebauten geteilt und weitergeführt, müsste man heute nicht den sogenannten Bauwirtschaftsfunktionalismus beklagen.
Das gut und übersichtlich in Sachthemen, Baugattungen, Motivgruppen und Werkkatalog gegliederte Buch ist eine Fundgrube, zumal sich Stohrers gebautes Werk von Berlin bis München erstreckt und er auch für ferne Kontinente geplant hat.