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Mindestsatzklagen deutscher Architekten werden vom EuGH nicht einkassiert
Kann sich ein Planer auf die Verbindlichkeit der Mindestsätze berufen, wenn er 2016 mit seinem Bauherrn einen Architektenvertrag abschloss, ein Honorar unterhalb der Mindestsätze vereinbarte und schließlich vom Bauherrn die Mindestsätze nachträglich einforderte? Immerhin waren die Mindestsätze zu dieser Zeit verbindliches Preisrecht und mussten eingehalten werden. Die Fachwelt sprach hier von Aufstockungsklagen: Der Planer stockte sein zunächst vertraglich vereinbartes Honorar auf den Mindestsatz auf. Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Juli 2019 (C-377/17) über die Verbindlichkeit der HOAI-Mindest- und Höchstsätze war die Frage klar und eindeutig zu beantworten: Die HOAI und ihre Mindest- und Höchstsätze waren verbindliches Preisrecht. Von Ausnahmen abgesehen, konnte sich der Bauherr daher nicht auf Honorarvereinbarungen unterhalb der Mindestsätze berufen. Der Planer durfte trotz Vertrages sein Honorar im Nachgang auf den Mindestsatz „aufstocken“. Die Verbindlichkeit des Preisrechts hatte Vorrang vor dem Vertrag.
Mit der Entscheidung des EuGH 2019 kippte die Verbindlichkeit, weil sie europarechtswidrig gewesen sein soll. Es folgten umfassende juristische Diskussionen zur Frage, welche Auswirkungen die Entscheidung nun auf die Praxis hatte. Eines war klar: Der Verordnungsgeber, die Bundesrepublik Deutschland, musste die HOAI europarechtskonform ändern, was sie auch mit der neuen HOAI 2021 vornahm. Wie stand es aber nun mit den Honorarrechtsstreitigkeiten, die vor der HOAI-Änderung und auch vor der EuGH-Entscheidung spielten? Durfte nicht der Architekt zumindest bis zur EuGH-Entscheidung auf die Verbindlichkeit des Preisrechts und auf die Gültigkeit einer deutschen Rechtsverordnung vertrauen? Woher sollte der Planer annehmen, dass die Verordnung europarechtswidrig war? Oder galt es vielmehr den Bauherrn zu unterstützen: Wenn die HOAI-Mindestsatzverbindlichkeit europarechtswidrig war, war sie dies ja auch schon ggf. vor der Entscheidung des EuGH?
Es kristallisierten sich zwei unterschiedliche Rechtsauffassungen heraus, die von zwei führenden Oberlandesgerichten vertreten wurden: Auf der einen Seite stand das Oberlandesgericht (OLG) Celle, das in zahlreichen Entscheidungen gegen die Honorarklagen der Planer entschied: Eine Aufstockungsklage hatte in Celle keinen Erfolg aufgrund der EuGH-Entscheidung. Anders entschied das OLG Hamm: Solange eine Rechtsverordnung in Kraft ist, gilt sie auch für die Bürger, die darauf vertrauen dürfen und sie anzuwenden haben. Demnach war das Preisrecht bis zur Änderung der HOAI 2021 verbindlich und Aufstockungsklagen hatten solange auch Erfolg.
Die Frage „Hamm oder Celle“ entwickelte folgenschwere Ergebnisse: Wer in Celle klagte, bekam als Planer kein aufgestocktes Honorar, in Hamm aber schon zugesprochen. Beim Berliner Kammergericht gab es sogar hausintern zwei Senate mit unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu der Frage: Wohl dem, der seine Klage bei dem aus seiner Sicht „richtigen“ Senat einlegen konnte. Die bedeutende Rechtsfrage ging folgerichtig zur finalen Entscheidung zum höchsten deutschen Zivilgericht, dem Bundesgerichtshof (BGH). Dieser stellte zwar fest, dass er der Rechtsauffassung aus Hamm zuneige, legte aber die Entscheidung dem EuGH zur Prüfung vor.
Am 18. Januar 2022 entschied der EuGH (Urt. v. 18.01.2022 – C-261/20) nun über die BGH-Vorlage und erteilte der Rechtsposition aus Celle eine Absage: „Das Unionsrecht steht HOAI-Mindestsatzklagen nicht entgegen“, stellt der bekannte Architektenrechtler Prof. Dr. Heiko Fuchs von der Kanzlei Kapellmann in einem Gastbeitrag auf der Seite der juristischen Plattform „Legal Tribune Online“ (LTO) zur EuGH-Entscheidung fest. Der EuGH kam zum Ergebnis, dass im vorliegenden Fall bestehendes nationales Recht nicht allein aufgrund der vorliegenden festgestellten Europarechtswidrigkeit einfach außer Kraft gesetzt werden kann. Ein deutsches Gericht muss daher HOAI-Aufstockungsklagen nicht pauschal abweisen. „Gleichwohl kann davon unbeschadet dieses Gericht sowie jede zuständige nationale Verwaltungsbehörde die Anwendung jeder Bestimmung des nationalen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstößt, aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließen“, heißt es in der offiziellen Pressemitteilung des EuGH zu seiner aktuellen Entscheidung. Das bedeutet: Deutsche Gerichte hätten gleichwohl die Möglichkeit selbst Aufstockungsklagen abzulehnen. Der BGH hatte indes in seinem Vorlagenbeschluss an den EuGH bereits mitgeteilt, dass er der Ansicht aus OLG Hamm zuneige. Ohne seiner Entscheidung vorgreifen zu können, wäre es nur konsequent, wenn die Rechtsposition aus Hamm nun von ihm bestätigt wird und damit Aufstockungsklagen Erfolg hätten.
Für Fuchs sind die Auswirkungen der Antworten des EuGH klar: „Der klagende Ingenieur kann abweichend vom Vertrag den Mindestsatz verlangen, die Revision des Auftraggebers wird zurückzuweisen sein. Hunderte ruhend gestellte oder mit Blick auf die unsichere Rechtslage noch nicht erhobene Aufstockungsklagen stehen jetzt zur Entscheidung vor den deutschen Gerichten an. Dies betrifft alle bis zum Inkrafttreten der HOAI 2021 am 1. Januar 2021 geschlossenen Architekten- und Ingenieurverträge und damit auch alle bis dahin geltenden Fassungen der HOAI“, so Fuchs in der „LTO“.
Für Architekten besteht damit die Hoffnung, dass ihre Aufstockungsklagen doch noch zum Erfolg führen. Bauherren könnten sich nach Ansicht des EuGH an die Bundesrepublik wenden und ggf. Schadensersatz geltend machen, sollte ein Schaden entstanden sein, was in der Realität aber schwierig zu beweisen sein dürfte. Die Entscheidung ist positiv, da sie die Rechtsanwendung von bestehendem nationalen Recht stärkt. Insofern ist zu hoffen, dass die deutschen Gerichte die europäische Vorlage treffsicher ins Tor verwandeln und Aufstockungsklagen stattgeben.