Interview: Pflicht, aber auch Haltungsfrage

Mit Blick auf soziale Nachhaltigkeit ist die barrierefreie Gestaltung von Räumen relevant. Was bedeutet das?

Wir müssen so bauen, dass sich Menschen mit Einschränkungen – seien es motorische, auditive, visuelle oder kognitive – ebenso wie Klein- oder Großwüchsige in der gebauten Umwelt ohne fremde Hilfe zurechtfinden. Die meisten denken zuerst an Menschen mit motorischen Ein­schrän­kun­gen im Rollstuhl. Auch die Vorgaben zur Bar­ri­ere­frei­heit werden häufig nur mit diesem Fokus umgesetzt. Doch Barrierefreiheit umfasst mehr: Jemand, der nicht gut hört oder taub ist, nimmt beispielsweise die Sirene einer Brandmeldeanlage nicht wahr – hier hilft ein visuelles Signal. Wer nicht gut sieht oder blind ist, orientiert sich übers Tasten. Treppenhäuser mit entsprechend ge­stal­te­ten Handläufen, die nicht erst kurz vor der Stufe beginnen, oder Markierungen großer Glasflächen sind für diese Menschen enorm wichtig.

Wo ist Barrierefreiheit denn Pflicht?

Bei nahezu allen Bauvorhaben ist eine barrierefreie Gestaltung gefordert. Das überrascht viele, ist aber in der baden-württembergischen Landesbauordnung (LBO) verankert. Anlagen, die überwiegend von Menschen mit Behinderung oder alten Menschen genutzt werden, müssen natürlich unbedingt barrierefrei sein. Der Paragraf 39 LBO – Barrierefreie Anlagen – nennt daneben aber auch eine ganze Reihe von Bauten, die so gut wie alle Lebenslagen betreffen: von Banken, Museen oder Kitas über Büro- und Verkaufsgebäude bis hin zu Einheiten mit mehr als 1.200 m² Nutzfläche – insgesamt 20 Bereiche. Ausnahmen gibt es nur wenige: Abgesehen von Befreiungen in Sonderfällen, haben nur Ein- und Zweifamilienhäuser keine Anforderungen an die Barrierefreiheit zu erfüllen. Für den Bereich Wohnen gilt außerdem Paragraf 35 der LBO. Die Wohnungen eines Geschosses in Gebäuden mit mehr als zwei Wohneinheiten müssen barrierefrei erreichbar, d. h. auch mit dem Rollstuhl zugänglich sein.

Welche Regeln gilt es beim Thema Barrierefreiheit zu beachten? Was schreibt der Gesetzgeber vor?

Das Thema Barrierefreiheit ist in den Paragrafen 35 und 39 der LBO geregelt. Darüber hinaus ist die DIN 18040 – Teil 1 und Teil 2 – in Verbindung mit der Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (VwV TB) zu beachten. Die Normen formulieren Planungsgrundlagen und geben Beispiellösungen – übrigens sowohl mit Bezug auf motorische als auch auf sensorische Einschränkungen, d. h. für Menschen mit Sehbehinderung, Blindheit, Hörbehinderung. In der VwV TB wird die Einführung der Normen mittels Anwendungshinweisen erläutert, das bedeutet, es gibt Ausnahmen und Abweichungen sowie konkret formulierte Anforderungen. In Baden-Württemberg ist die barrierefreie Gestaltung von Gebäuden nach Paragraf 39 umfassend betrachtet. Es darf keine räumliche Diskriminierung stattfinden. Deshalb müssen nicht nur die Bereiche barrierefrei sein, wo Besucherverkehr zu erwarten ist, sondern auf allen Etagen. Lediglich bei der Erschließung genügt es laut VwV TB, die Haupterschließung entsprechend zu berücksichtigen. Das beinhaltet auch den schwellenlosen Zugang, eventuell mit Rampen. Ausnahmsweise wird auch eine andere sinnvolle barrierefreie Erschließung akzeptiert.

Auch wenn nicht alles verpflichtend ist, warum ist eine barrierefreie Gestaltung generell sinnvoll?

Die Umsetzung der Barrierefreiheit ermöglicht eine Nutzbarkeit für alle – ob mit oder ohne Ein­schrän­kung. Das müssen die Planenden, aber auch die Bauherrschaften verstehen. Ich finde es scha­de, wenn immer wieder das Kostenargument kommt und der gesamtgesellschaftliche Ansatz an Bedeutung verliert. Beispiel Nullschwelle zum Bal­kon: die ist zwar teurer, kommt aber jedem zu­gu­te. Und der demografische Wandel ist schon da.

Wie sind Ihre Erfahrungen aus der Be­ra­tungs­praxis? Mit welchen Problemstellungen werden Sie am häufigsten konfrontiert?

Häufiges Kopfschütteln bereitet der erste Absatz des Paragrafen 35 LBO zu den Wohnungen. Statt sich auf einen Standard zu konzentrieren und den konsequent durchzusetzen, fordert er von allem ein bisschen: Bei der Zugänglichkeit der Wohnung und der Räume gilt der Rollstuhlstandard (R-Standard) mit den entsprechenden Bewegungsflächen an den Türen, in den Räumen darüber hinaus nur noch die barrierefreie Nutzbarkeit und für Balkone, Abstellräume und Kfz-Stellplätze gibt es gar keine Anforderungen. Oft ist die Interpretation der Planerinnen und Planer auch etwas eigenwillig: Manch einer bezieht die Zugänglichkeit mit dem Rollstuhl nur auf das Hineinkommen. Dass man im Raum aber entsprechende Flächen zum Wenden des Rollstuhls braucht, um auch wieder hinauszukommen, sollte eigentlich selbstverständlich sein und berücksichtigt werden.

Ihr Rat an die Kolleginnen und Kollegen?

Kreativ an die Aufgaben zur barrierefreien Gestaltung herangehen und dabei nicht nur die motorischen Einschränkungen im Blick haben, sondern auch die sensorischen. Und was die barrierefrei zugänglichen Wohnungen des Paragrafen 35 betrifft, könnte ein klärendes Gespräch mit der Bauherrschaft und die Möglichkeit der Übererfüllung gesetzlicher Anforderungen zu sinnvollen rollstuhlgerechten Wohnungen führen, die den Namen dann auch verdienen.