Gründerzeit. Der Stuttgarter Westen in historischen Fotografien
Christine Ernst, Clemens Ernst, Eckhard Ernst, Silberburg-Verlag, Tübingen 2016, 124 Seiten, 114 Schwarzweiß-Fotografien und farbige Abbildungen, Format 22,5 x 22,5 cm, fester Einband, ISBN 978-3-8425-1494-2, 22,90 Euro
Der Stuttgarter Westen gehört zu den begehrtesten Wohnorten in der Landeshauptstadt. Entstanden in der Gründerzeit, ist das Viertel von langen, geraden Straßen und Blockstruktur geprägt: mehrgeschossige Bauten, deren repräsentative Steinfassaden sich zur Straße anordnen. Mit seinem urbanen Charakter übt der dichtest besiedelte Stadtteil Deutschlands einen ganz besonderen Reiz auf Singles und Studenten, aber auch auf junge Familien und Alteingesessene aus. Das Quartier ist bunt, Restaurants und Kneipen finden sich dort zuhauf. Was in den vergangenen Jahrzehnten jedoch rarer und rarer wurde, war öffentlicher Raum mit guter Nutzbarkeit und Aufenthaltsqualität. Stattdessen verstopften geparkte Autos noch die letzte kleine Lücke.
Vor diesem Hintergrund bildete sich 2011 die "Initiative Stadtraum West", ins Leben gerufen von dem Architekten Eckhard Ernst und einigen Kolleginnen und Kollegen. Sie erarbeiteten konzeptionelle Vorschläge, die sie erst ihrem Bezirksbeirat und der Öffentlichkeit präsentierten und mit denen sie auch das Interesse des Amts für Stadterneuerung auf sich ziehen konnten. Entstanden ist ein großes Sanierungsgebiet. Entstanden ist darüber hinaus ein faszinierender Bildband: "Gründerzeit. Der Stuttgarter Westen in historischen Fotografien." Darin finden sich Aufnahmen von den verschiedensten Straßenräumen, aber auch von Parks, von König Wilhelm II. vor dem Lindenmuseum oder von "Kindern am Rosenbergplatz, als die Hasenbergstraße noch in einen Feldweg auslief."
Spannend zu lesen: die Entstehung der Johanneskirche. Hier erfährt man, dass sage und schreibe "seit dem fünfzehnten Jahrhundert [...] kein bedeutender Kirchenbau zu Stuttgart unternommen wurde." Diese Information stammt aus der Urkunde zur Grundsteinlegung am 30. Oktober 1866 - eine der historischen Quellen, mit denen die Kapitel jeweils beginnen. Angeordnet sind sie in der Reihenfolge eines gedachten Spaziergangs durch den Stuttgarter Westen, den der Leser dank der abgedruckten Stadtkarte ohne Weiteres ablaufen könnte, um sein persönliches Vorher-Nachher-Bild von Architektur und Städtebau zu erstellen.
Die Fundstücke lassen die Epoche auch gesellschaftspolitisch lebendig werden. Genannt seien ein Bäcker, der mit Risiko und persönlicher Entbehrung sein eigenes Unternehmen gründete, oder der Verleger Ernst Klett senior, der in einem Brief vom Erwerb der Grüningerschen Druckerei und Verlagsanstalt berichtet. Dass in der Liederhalle 1907 der Internationale Sozialisten-Kongress mit Teilnehmern wie Rosa Luxemburg und Lenin tagte und dabei beispielsweise über das Frauenstimmrecht diskutierte, auch darüber informiert das Buch. Außerdem geht "der erste Stuttgarter Bauträger" mit sich selbst hart ins Gericht: "Das Haus [...] bereitete mir sehr viele Sorgen und war für mich ein Warnungszeichen für künftige sorgfältige Projektierungen, Überlegungen und Vorbereitungen."
Eingeleitet durch einen stadt- und baugeschichtlichen Überblick und flankiert von den kurzen, aber beredten schriftlichen Zeugnissen umfasst die Dokumentation über hundert gut beschriftete Fotos, die allermeisten messerscharf, einige koloriert. Nicht nur eingefleischte "Westler" werden gerne darin schmökern.