Stadtspaziergang im Europaviertel am Mo, 31. März 2025 Foto: Gottfried Beck
Im Gleisbett gestrandete Wale? Idee, Wirklichkeit und Zukunft des Europaviertels
Ein Nachbericht von Thomas Herrmann
Schon drei Tage nach Ankündigung war der Stadtspaziergang ausgebucht. Die Teilnehmer:innen wurden nicht enttäuscht: Am Ende eines langen Abends gingen sie mit einer Fülle an Erfahrungen, Informationen und vielen offenen Fragen nach Hause.
Gleich zu Beginn gab Lisa Volk, Marketing-Managerin des Milaneo, hochinteressante Einblicke in die Funktionsweise einer Shopping-Mall mit mehr als 200 Einzelgeschäften und bis zu 50.000 Besuchern am Tag. Wir wurden überrascht von der wuseligen Fülle auf allen drei Etagen an einem gewöhnlichen Montagnachmittag. Lisa Volk erklärte uns, welchen Einfluss das Ende des Ramadan darauf hat – und die Lohnauszahlungen zum Monatswechsel!
Die Leiterin der Stadtbibliothek am Mailänder Platz, Christiane Rost, führte uns durch ein Gebäude, das dank seiner „Instagram-Tauglichkeit“ zu den touristischen Attraktionen Stuttgarts zählt. Damit das eher hermetische Raumkunstwerk zum „Haus für Alle“ werden kann, muss ein Miteinander von Konzentration suchenden Bibliotheksbenutzern, Jugendlichen aus Stuttgart Nord und Selfie-Touristen, die vom Milaneo mal kurz rüber schauen, immer neu ausbalanciert werden. Eine Herausforderung, die Christiane Rost als Chance begreift, Menschen an die Nutzung seriöser Medien heranzuführen, die anderswo nie eine Bücherei betreten würden.
Beim Durchwandern des Stadtviertels wurde deutlich, wie weit der quirlige Mailänder Platz vom Hauptbahnhof entfernt ist, welch große Lücken es dort fast 30 Jahre nach Beginn der Planungen noch gibt und wie sehr die Monostruktur des LBBW-Quartiers mit beinahe 300.000 m² BGF Büroflächen eine urbane Verknüpfung mit dem Bahnhofsbereich erschwert.
Im städtischen Pop-up-Raum „1A Lage“ wurden die gewonnen Eindrücke bei der abschließenden Abendveranstaltung vertieft, die Entstehungsgeschichte des Europaviertels vergegenwärtigt und über die künftige Entwicklung spekuliert.
Sven Hahn, Chefredakteur von Lift Stuttgart und früherer City-Manager, steuerte wichtige Gedanken und Zahlen zum Funktionieren der Innenstadt bei: Weil es heute aus praktischen Gründen kaum mehr notwendig ist, das Stadtzentrum zu besuchen, komme man nur, wenn man es möchte. Die Anziehungskraft liege im großen Spektrum an Aktivitäten, die so nur dort möglich sind. Entscheidend sei der Öffentliche Raum, der „gut erreichbar, sauber und sicher“ sein müsse. Je besser sich Akteure und Anbieter miteinander vernetzen, umso mehr profitiere jeder Einzelne.
Susanne Dürr, Professorin in Karlsruhe, Vizepräsidentin der AKBW und Vorsitzende der Jury zum Wettbewerb „Raum für Ideen“ im Rosensteinviertel zeigte mit einer Fülle anregender Beispiele aus aller Welt, wie Urbanität heute gelebt wird und wie sich das aufs Europa- und Rosensteinviertel übertragen ließe.
Frank Gwildis, Stadtentwicklungsplaner im Planungsamt der Landeshauptstadt berichtete vom EU-Forschungsprojekt AKUT und dem Reallabor in der Königstraße 1A. Mit einem engagierten Team und unter reger Beteiligung der Stadtgesellschaft wird hier mitten in der Innenstadt schon intensiv über deren Zukunft nachgedacht.
Die jetzt doch bald bevorstehende Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs wird mit Sicherheit Dynamik in die Entwicklung des Europaviertels bringen. Jetzt gilt es, die im bisher so schwierigen Prozess gewonnen Erkenntnisse zu nutzen, einiges anders und vieles besser zu machen. Die Menschen, die das Stadtviertel heute schon intensiv nutzen, sollten es wert sein!